Berichte

Von Chancen, Risiken und Märchen

KREISTAG DISKUTIERT KNAPP DREI STUNDEN SEHR EMOTIONAL üBER DIE SCHLIEßUNG DER GEBURTSHILFE IN DILLENBURG

(jli). ​​​​​​​DILLENBURG/WETZLAR. Noch einmal Geburtshilfe in Dillenburg, noch einmal hat der Kreistag über dieses Thema diskutiert. Die CDU sah noch eine Chance für den Erhalt, die Linke sprach von Sabotage und Intransparenz, die SPD von Verschwörungsmythen, die AfD von unredlichen Schuldzuweisungen, der Landrat von Populismus.

Knapp drei Stunden haben die Abgeordneten in ihrer Sitzung am Montag in Wetzlar diskutiert. An der Schließung der Geburtshilfe in der Dillenburger Klinik am 31. Dezember ändert dies nichts mehr.

Drei Anträge führten zu der Diskussion:

W Die CDU forderte, die Geburtshilfe solle so lange so weiterbetrieben werden, bis es eine Alternative gebe, sei es als geburtshilfliche Tagesklinik oder als Hauptabteilung mit eigenen Ärzten statt Belegärzten. Außerdem solle der Kreistag die Kommunikation des Landrats bemängeln. (CDU, Linke, NPD und Teile der AfD stimmten dafür, SPD, Grüne, FWG, FDP und Teile der AfD dagegen; „Die Partei“ nahm nicht an der Sitzung teil)

W Die Linke forderte, der Kreistag solle eine angeblich intransparente Verhaltensweise von Landrat sowie Klinik-Geschäftsführung missbilligen (Linke, NPD und Teile der AfD stimmten dafür, der restliche Kreistag dagegen). Außerdem solle die Kreisregierung mit Blick auf die Zukunft über die Personalsituation und über Altersstruktur in den Lahn-Dill-Kliniken berichten (Unterschied zur vorangegangenen Abstimmung: Die CDU enthielt sich).

W In einem Dringlichkeitsantrag forderte die Linke darüber hinaus, der Kreistag solle den Landrat, als Aufsichtsratsvorsitzenden der Kliniken auffordern, noch in diesem Jahr eine Sondersitzung des Aufsichtsrates einzuberufen, um noch Lösungsvorschläge der Belegärzte anzuhören (dafür stimmten Linke, NPD und Teile der AfD, der restliche Kreistag dagegen).

Alle drei Anträge wurden somit von der Mehrheit des Kreistags, teilweise in namentlicher Abstimmung, abgelehnt.

CDU-Abgeordneter Jörg Michael Müller äußerte sich zu den Leitlinien, zu der Frist von maximal 20 Minuten zwischen Entscheidung zu einem Not-Kaiserschnitt und Entbindung. Da die Belegärzte in der Dillenburger Klinik die Einhaltung der Frist nicht gewährleisten können und eine Belegärztin daraufhin kündigte, hatten die Lahn-Dill-Kliniken das Aus der Geburtshilfe in Dillenburg zum Jahresende beschlossen. Müller: „Diese Richtlinien sind in Deutschland nicht unumstritten. Sie sind ein Soll, aber kein Muss.“ Und er fragte, warum man nicht zumindest versuche, die Geburtshilfe als Tagesklinik fortzuführen. Diese Alternative sei bislang noch nicht geprüft worden. „Man muss jede Chance nutzen.“ Sein Fraktionskollege Kevin Deusing behauptete, es gebe „keinen absoluten Rechtsbindungsgrad der Leitlinien“.

Linken-Fraktionsvorsitzender Tim Zborschil unterstellte der Vierer-Koalition aus SPD, Grünen, FWG und FDP die Sabotage einer transparenten Aufarbeitung rund um die Schließung. Und der SPD warf er eine Schließungsabsicht und Blockadehaltung vor, weil SPD-Abgeordneter David Rauber als Vorsitzender des Kreistags-Sozialausschusses keine Sondersitzung mit Anhörung der Belegärzte einberufen hatte. So seien zahlreiche Fragen offengeblieben. Rauber: „Das ist nicht eine Frage des Wollens, sondern des Könnens.“ Denn: Der Kreistag habe zuvor eine solche Sondersitzung abgelehnt. „Wer bin ich denn, da etwas anderes auf den Weg zu bringen“, sagte Rauber.

SPD-Abgeordneter Stephan Grüger sprach von „Verschwörungsmythen“ der Linken. Und die Vorschläge der CDU seien Wunschdenken, aber leider nicht umsetzbar. „Man kann nicht über die Realitäten hinweggehen.“ Und: „Es ist nicht hinnehmbar, der Geschäftsführung ein Risiko aufzubürden, in der Hoffnung, dass schon nichts schiefgehen wird.“

Christiane Ohnacker (Linke): „Ich bin einigermaßen fassungslos. Wir müssen die politische Verantwortung dafür tragen, dass alle Möglichkeiten ausgelotet werden.“ Und man solle endlich auch mal die Beschäftigten reden lassen, nicht nur die Geschäftsführung. SPD-Fraktionsvorsitzende Cirsten Kunz: „Wie wären durch diese Gespräche die fehlenden Belegärzte herbeigekommen?“

Landrat Wolfgang Schuster (SPD), zugleich Aufsichtsratsvorsitzender der Lahn-Dill-Kliniken, hielt Ohnacker vor: Im Aufsichtsrat säßen auch Arbeitnehmervertreter.

Landrat Schuster redet sich in Rage

Diese seien von Anfang bis Ende über alles informiert worden. „Warum verschweigen Sie das?“ Der CDU warf Schuster „Populismus“ vor und sagte: Die Leitlinien seien nunmal ein Maßstab, den Versicherungen und Gerichte zugrunde legten. „Sie können beschließen, was Sie wollen, aber ich werde der Geschäftsführung nichts ins Buch schreiben, was gegen die Richtlinien verstößt und die Staatsanwaltschaft auf den Plan ruft.“

Schuster redete sich in Rage und empörte sich: „So, wie hier teilweise über unsere Geschäftsführung gesprochen wird (er meinte Zborschil; Anm. d. Red.), das ist Niveau unterster Schublade.“ Und: „Ihr rennt einem Märchen nach dem anderen hinterher.“

Johannes Volkmann (CDU) zweifelte an, dass die Geschäftsführung auch strafrechtlich in der Verantwortung stehe. Und für die zivilrechtliche Haftung in Schadensfällen könne der Kreistag einen Beschluss fassen, dass der Kreis dieses Risiko übernehme. Und er fragte: „Welchen zwingenden rechtlichen Grund gibt es für eine Schließung am 31. 12.?“ Volkmann sah keinen. Er forderte den Weiterbetrieb der Geburtshilfe unter den aktuellen Rahmenbedingungen, bis eine tragfähige Lösung gefunden sei.

Jurist David Rauber schätzte die Rechtslage anders ein: „Ein Kreistagsbeschluss ist kein Freifahrtschein, medizinische Standards außer Acht lassen zu dürfen. Eine bewusste Missachtung begründet ein Strafbarkeitsrisiko. Und wer gehe denn noch in eine Klinik, wo medizinische Standards mit Füßen getreten würden?“

Kreistagsbeschluss bedeutet „keinen Freifahrtschein“

Matthias Büger (FDP) zeigte sich „entsetzt“ über die Darstellung, die Leitlinien seien nur eine „unverbindliche Vorgabe“. Sie würden bei Gerichtsverfahren zugrunde gelegt. Sie aus politischen Gründen zu ignorieren, „das wäre kriminell“. Hier werde ein „politisches Süppchen“ gekocht. Man dürfe alternative Ansichten haben, aber keine alternativen Fakten.

Grünen-Fraktionsvorsitzende Martina Klement erklärte: „Wir haben gerungen, aber es ist jetzt vorbei.“ Aber auch sie kritisierte, dass die Betroffenen aus der Geburtshilfe von der Politik nicht gehört worden seien. „Offenheit und Transparenz wären wünschenswert gewesen.“

Anders Andrea Niggemann (AfD): „Ich habe den Eindruck, dass sich die Geschäftsführung um Transparenz bemüht hat.“ Auch eine Anhörung der Belegärzte hätte vermutlich nichts an der Situation geändert. Das politische Spiel sei aber noch nicht vorbei, so gehe es in der Debatte um Verantwortung und Schuld. „Jetzt wird versucht, politisches Kapital daraus zu schlagen.“ Der Antrag der CDU sei rechtlich und tatsächlich nicht machbar. Und Vorwürfe gegen den Landrat seien in diesem Fall „unredliche Schuldzuweisungen“.

FDP-Kreistagsabgeordneter Wolfram Dette: „Ich habe vollstes Verständnis für die Emotionen bei diesem Thema.“ Aber aktuell seien die Rahmenbedingungen für einen Fortbestand der Geburtshilfe nicht mehr gegeben. Eine Belegärztin habe gekündigt, und ein anderer Belegarzt wolle keinen Nachtdienst machen. Auch die Klinik-Geschäftsführung könne nicht zaubern.

Quelle: Wetzlarer Neue Zeitung, 14.12.2022