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Was ist die beste Strategie?

CDU FORDERT GROßE ZENTRALE UNTERKüNFTE FüR 40 MILLIONEN EURO / KREISREGIERUNG BEHARRT AUF DEZENTRALE LöSUNGEN

Die CDU hat große, zentrale Unterkünfte gefordert, 40 Millionen Euro sollte der Kreis dafür bereitstellen. Auf diese Weise sollten die Städte und Gemeinden entlastet werden und die Menschen künftig nicht mehr selbst unterbringen müssen. Der Kreistag hat diesen Antrag in seiner Sitzung am Montag in Wetzlar mit großer Mehrheit abgelehnt.

WETZLAR/DILLENBURG. Es wäre eine neue Strategie für die Unterbringung von Flüchtlingen im Lahn-Dill-Kreis gewesen: Die CDU hat große, zentrale Unterkünfte gefordert, 40 Millionen Euro sollte der Kreis dafür bereitstellen. Auf diese Weise sollten die Städte und Gemeinden entlastet werden und die Menschen künftig nicht mehr selbst unterbringen müssen. Der Kreistag hat diesen Antrag in seiner Sitzung am Montag in Wetzlar mit großer Mehrheit abgelehnt. Die Kreisregierung will an der dezentralen Unterbringung in kleineren Unterkünften im gesamten Kreisgebiet festhalten.

Zentral oder dezentral, Kreis oder Kommunen?

„Wir haben in der Vergangenheit die dezentrale Unterbringung mitgetragen“, sagte CDU-Kreistagsabgeordneter Jörg Michael Müller. „Wir müssen aber jetzt feststellen, die Städte und Gemeinden können es nicht mehr.“ Und in den Kommunen gebe es schwierige Diskussionen mit den Bürgern; man müsse die Menschen wieder mitnehmen. Deshalb brauche es derzeit – vielleicht zeitlich befristet für fünf Jahre – mindestens eine große, zentrale Unterkunft des Kreises. Die Kreisverwaltung habe bei der Unterbringung der Flüchtlinge größere Ressourcen als die Kommunen.

Kreis-Sozialdezernent Stephan Aurand (SPD) erklärte dagegen: An der dezentralen Unterbringung solle sich nichts ändern. „Wir möchten die Menschen weiter so unterbringen. Sie können sich doch vorstellen, was in Kommunen los wäre, wenn wir 500, 600 Menschen an einem Platz unterbringen.“ Und weiter: „Wir haben folgende Strategie: Wir wollen für die nächsten Jahre dezentrale Unterkünfte für bis zu 200 Menschen schaffen.“ Container-, Holzbau- oder Leichtbau-Siedlungen. Wie in Solms schon konkret geplant und in weiteren Kommunen im Gespräch. Aurand geht davon aus, dass der Kreis so bis Jahresende insgesamt 1000 Unterkunftsplätze für Flüchtlinge im Lahn-Dill-Kreis schaffen kann. Dafür brauche der Kreis aber noch ein halbes Jahr Vorlauf – und in dieser Zeit eine Entlastung durch das Land.

Müller erwiderte: „Die Bürgermeister goutieren die dezentrale Unterbringung nicht mehr.“ Er nannte zum Beispiel Siegbach: Flüchtlinge unterbringen, betreuen und integrieren – wie sollten die Kommunen das leisten? Das könne nur der Kreis. Müssten die Kommunen ihre Bürgerhäuser belegen, „dann wäre das der Punkt, an dem wir die Bürger verlieren; das können wir uns nicht leisten“.

Der Vorteil von solch großen, zentralen Unterkünften: Die meisten der 23 Kommunen im Lahn-Dill-Kreis wären erleichtert – um die Aufgabe und um potenziellen Widerstand aus der eigenen Bevölkerung. Das Problem, um das auch die Bürgermeister wissen: Wo sollen sie hin, welche Kommune würde sich freiwillig zum Standort für eine Unterkunft von 500 Menschen machen?

Aurand formulierte zwei Forderungen an den Bund: Stopp von ungerechtfertigter Zuwanderung sowie Übernahme der Unterkunftskosten zu hundert Prozent. Und eine Bitte an das Land Hessen: „Die Zuweisungen möglichst bis Herbst auszusetzen.“ Dann müsse der Kreis die Unterbringung der Flüchtlinge vorerst nicht weiter an die Städte und Gemeinden delegieren und könne diese so entlasten. Stattdessen solle das Land zuerst die freien Kapazitäten von derzeit rund 3000 Plätzen in seinen Erstaufnahmen nutzen.

Forderungen an Bund, Bitte an Land

Der Sozialdezernent berichtete von aktuell unvorhersehbaren Zuweisungen des Landes: Vorige Woche seien dem Lahn-Dill-Kreis 48 Menschen angekündigt worden, tatsächlich seien aus den hessischen Erstaufnahmen aber 75 gekommen. „Da rotiert unser Ankunftszentrum in Heisterberg.“ Die Kreisverwaltung hat den 23 Bürgermeistern bereits angekündigt, bis Ende Juni müssten sie voraussichtlich mit insgesamt weiteren circa 550 Menschen rechnen.

Müller verteidigte das Land: Die Erstaufnahmen bräuchten einen Puffer. Sozialdezernent Aurand konterte: „Es braucht einen Puffer. Aber doch keine 3000 Plätze.“ Müller: Viele Plätze könnten auch deshalb nicht belegt werden, weil zum Beispiel in Sechs-Bett-Zimmern vierköpfige Familien untergebracht seien, diese Zimmer aber dann nicht mit weiteren Fremden aufgefüllt werden sollten. Und aus Infektionsschutzgründen gebe es teilweise nur Einzelbelegungen. So handhabe es der Kreis doch auch. Aurand bestätigte: Deshalb seien die Gemeinschaftsunterkünfte des Kreises auch nicht komplett belegt – aber immerhin noch zu 95 Prozent.

Offene Frage nach der Kostendeckung

SPD-Abgeordneter Stephan Grüger fragte nach der Kostendeckung für die 40 Millionen Euro: „Wo soll das Geld herkommen?“ In ihrem Antrag hat die CDU notiert, eine Teilfinanzierung erwarte sie aus dem Topf von einer Milliarde Euro, der vergangene Woche beim Flüchtlingsgipfel zwischen Bund und Ländern vereinbart wurde. Dazu Grüger: „Das Land hat klebrige Finger. Wir wissen nicht, was davon an die Kommunen weitergegeben wird.“

Für den CDU-Antrag einer zentralen Unterbringung stimmte im Kreistag nur die Union. Die Vierer-Koalition aus SPD, Grünen, FWG und FDP stimmte dagegen, ebenso AfD, Linke, „Die Partei“ und NPD.

Bis auf AfD und NPD sind sich die Parteien aber einig, dass die Flüchtlinge, die hier sind, untergebracht werden müssen. CDU-Abgeordneter Jörg Michael Müller sagte: „Wir sind Teil des Rechtsstaates und der Solidargemeinschaft, wir stehen mit in der Verantwortung. Wir können nicht sagen, wir nehmen im Lahn-Dill-Kreis keinen mehr auf.“

Lothar Mulch (AfD) sprach von „Asylindustrie“ und sagte, bei der Unterbringung von Flüchtlingen spiele Geld keine Rolle. „Wir werfen es aus dem Fenster.“ Sein Fraktionskollege Karlheinz Bellinghausen warf der CDU „Akzeptanz weiterer Zuwanderung und Plünderung unseres Sozialstaates“ vor. NPD-Abgeordneter Thassilo Hantusch erklärte: „Entweder wir kämpfen jetzt als Deutsche zusammen für den Erhalt unseres Landes, oder wir besiegeln den Untergang.“

Matthias Büger (FDP) entgegnete auf Mulch: „In der Krise beweist sich der Charakter – auch manch menschenfeindlicher Charakter.“ Mulch: „Büger hat selbst keinen Charakter.“

Martina Klement (Grüne) sagte: „Ich nehme Flüchtlingspolitik nur noch als Schuldzuweisungen wahr.” Sie müsse so gestaltet werden, dass sie von der Mitte der Gesellschaft getragen werde.

Cirsten Kunz (SPD): „Solidarität und Rücksichtnahme haben uns als Gesellschaft stets weitergebracht. Wir tragen hier Verantwortung.“

Gudrun Esch (FWG) appellierte, die Belegung von Gemeinschaftshäusern und Sporthallen zu vermeiden. Die FWG befürworte deshalb das Konzept der Container-Unterkünfte wie in Solms ausdrücklich. „Wir haben durch unser Tun und Lassen aber auch eine gesellschaftliche Verantwortung für Fluchtursachen.”

Quelle: Wetzlarer Neue Zeitung, 17.05.2023