Berichte

Kreistagsvorsitzende gibt entnervt auf

IN DEBATTE UM AFD-ANTRAG BLEIBEN BELEIDIGUNGEN SOWIE FORDERUNGEN NACH RüGEN – UND „KEIN SPAß MEHR“ VON JöRGEN LINKER

WETZLAR/DILLENBURG Elisabeth Müller hat die Faxen dicke. Die CDU-Politikerin aus Bischoffen ist gewissermaßen die erste Bürgerin im Lahn-Dill-Kreis, denn sie leitet das Parlament des Lahn-Dill-Kreises, den Kreistag. In der Sitzung am Montag war sie mit den Nerven am Ende. Müller sagte: „Der Job hier vorne macht keinen Spaß mehr. Es geht ständig: ,Der hat aber das gesagt, und der hat das gesagt.‘“ Sie äffte dafür den Tonfall von Kleinkindern nach. „Ich habe genug“, erklärte die Kreistagsvorsitzende weiter. Sie schmiss die Sitzungsleitung an diesem Tag hin und übergab an ihre Stellvertreterin Beatrix Egler (SPD).

Das war geschehen: Die Abgeordneten hatten sich um die Wortwahl gestritten. Auf der einen Seite verbale Angriffe, auf der anderen Seite die Forderung nach Rügen für die verwendeten Begriffe.

„Schäbiger Rabulist“, „Hetzer“, „herumpöbeln“, „Spalter“, „es fehlt Ihnen an Charakter und Intelligenz“ – alles Aussagen der AfD in der Kreistagssitzung am Montag.

Kurz zuvor hatten sich noch sämtliche Abgeordnete mit Blick auf zunehmende Attacken gegen Politiker in Deutschland (aktueller und lokaler Bezug: ein Anschlag auf die Grünen-Geschäftsstelle in Wetzlar) für einen Beschluss gegen „Gewalt in jeder Form“ ausgesprochen, auch die AfD. Und dabei wurde unter anderem auch auf ein „verbales Abrüsten“ in der Politik gedrängt. Diese Worte waren nach einer Stunde schon teilweise nichts mehr wert.

AfD-Fraktionsvorsitzender Lothar Mulch sorgte zunächst für Empörung, weil er Matthias Büger (FDP) als „schäbigen Rabulisten“ bezeichnete; Büger habe nämlich in einem Redebeitrag seine (Mulchs) Worte verdreht. Elisabeth Müller forderte ihn auf: „Das nehmen Sie zurück!“ Mulch: „Nein, er ist ein Wortverdreher.“ Müller: „Das geht so nicht. Halten Sie diese Aussage aufrecht?“ Mulch: „Ja.“ Müller: „Dann sage ich Ihnen, dass ich diese Aussage ausdrücklich rüge.“

Sechs Tagesordnungspunkte später folgte der nächste Streit. AfD-Co-Fraktionsvorsitzender Klaus Niggemann bezeichnete Landrat Wolfgang Schuster (SPD) unter anderem als „Hetzer in weiten Teilen“ und „Spalter“ und sprach ihm Format, Charakter und Intelligenz ab und eine „tiefe antidemokratische Gesinnung“ zu.

Abgeordnete reagierten empört, riefen dazwischen und forderten die Kreistagsvorsitzende auf, auch diese Aussagen zu rügen. Ähnliche Diskussionen, Forderungen nach Rügen, ermüdende Geschäftsordnungsdebatten hatte es auch schon in vergangenen Sitzungen gegeben. Offenbar war nun bei der Kreistagsvorsitzenden das Maß voll.

Anlass für die Äußerungen Niggemanns: ein Antrag der AfD. Die Fraktion forderte die „Missbilligung des Verhaltens“ von Landrat Wolfgang Schuster (SPD). Schuster hatte sich in einer Videobotschaft der Kreisverwaltung zum Thema Corona unmittelbar vor dem „Tag der Arbeit“ am 1. Mai auch zum Thema Gewerkschaften geäußert und dazu aufgerufen, Mitglied einer DGB-Gewerkschaft zu werden. In den Augen der AfD-Vertreter ist dies Parteipolitik, da es eine starke Verzahnung zwischen SPD und DGB gebe.

Der Kreistag lehnte eine Missbilligung ab. Nur AfD, ein Fraktionsloser sowie ein NPDler stimmten dafür.

Joscha Wagner (SPD) sagte, die AfD versuche alles zu skandalisieren. Matthias Büger nannte das Vorgehen der AfD einen „Frontalangriff, der in Inhalt und Stil unterirdisch ist“. Und Landrat Schuster wiederholte seine Forderung, denn Gewerkschaften seien wichtig für Tarifverträge; deshalb fordere er auch Arbeitgeber auf, Mitglied in Arbeitgeberverbänden zu werden.

Auch Hans-Jürgen Irmer (CDU) lehnte die Missbilligung ab, denn man müsse nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Er sagte aber, Schusters Aussage sei nicht in Ordnung gewesen, zumal es neben dem DGB noch andere tariffähige Gewerkschaften gebe. Der Landrat müsse Amt und politisches Mandat trennen. Auch der Regierungspräsident habe Schuster bereits deswegen gerüffelt. Das stimmt in diesem Fall jedoch nicht.

Die AfD hatte mit dem Fall bereits den zuständigen Gießener Regierungspräsidenten betraut und Dienstaufsichtsbeschwerde eingelegt. Doch RP Christoph Ullrich (CDU) sah keinen Handlungsbedarf: „Eine Verletzung der Mäßigungs- bzw. Neutralitätspflicht liegt im vorliegenden Fall nicht vor. Ein weiterer dienstaufsichtsrechtlicher Handlungsbedarf besteht nicht.“